Ansprechpartner: Prof. Dr. Michael Baales
Die mitteldevonischen Riffkalk- bzw. Dolomitvorkommen um Hagen und Iserlohn sind reich an großen und kleinen Höhlen und es werden immer neue Fortsätze bekannter Höhlen und sogar neue Höhlen entdeckt. So stießen die ehrenamtlichen Speläologen des Arbeitskreises Kluterthöhle e.V. im Jahr 1983 auf einen neuen Spalt. Dieser lag unter einer Felsklippe des Weißensteins bei Hagen-Holthausen, nahe der Einmündung des kleinen, von Westen kommenden Milchenbachs in die SO-NW fließendende Lenne. Aufgrund der dichten Laubbedeckung des kleinen Einstiegs erhielt die neue Höhle zunächst den Namen „Blätterloch“, später dann „Blätterhöhle“.
Im Frühjahr 2004 kehrten die Speläologen zur kleinen Höhle zurück, um die hydrologischen Verhältnisse im Untergrund des Dolomitklotzes des Weißensteins zu erforschen. Hierzu räumten sie die oberen Sedimente des schmalen, schräg abfallenden Höhlenzugangs frei, sodass ein Mensch hineinschlüpfen konnte. Im Zuge der weiteren Arbeiten kam dann überraschend eine größere Menge an Menschenknochen (darunter vollständige Langknochen) zu Tage, die zunächst weitere Tätigkeiten zum Stillstand brachten – aber die Archäolog:innen auf den Plan riefen.
Seit 2006 finden regelmäßig Grabungen sowohl in als auch vor der Höhle statt. Denn nachdem ein großer Versturzblock entfernt worden war, konnten darunter erhaltene steinzeitliche Fundschichten untersucht werden.
Die Analyse der Situation in der Höhle hat gezeigt, dass zwei Fundhorizonte mit menschlichen Skelettresten überliefert sind. Allerdings sind diese stark gestört bzw. durch die intensiven Aktivitäten von zahlreichen Dachsen erst als eigenständige Sedimenteinheiten entstanden.
Die obere Schicht erbrachte Menschenreste von bisher mindestens sieben Individuen aus dem jüngeren Neolithikum (ca. 3900 - 2900 v. Chr.), während aus dem älteren Horizont die Reste von immerhin mindestens fünf Individuen aus dem frühen Mesolithikum (9200 - 8700 v. Chr.) geborgen werden konnten, darunter jeweils auch Kinder. Die mesolithischen Funde waren lange die ältesten Skelettreste den anatomisch Modernen Menschen in Westfalen. Menschenfunde aus Höhlen sind für beide Zeithorizonte in Nordwesteuropa – vor allem in Belgien – jedoch durchaus typisch. Die naturwissenschaftlichen Analysen (aDNA, Isotopen) der Menschenreste erbrachten interessante Einblicke in die Lebens- und Ernährungsgewohnheiten der damaligen Gruppen.
Die Menschen beider Zeithorizonte wurden in der kleinen Höhle offenbar bewusst bestattet, eventuell auch als Sekundärbeisetzungen. Allerdings fehlen eindeutige Beigaben vor allem für den jüngeren Zeithorizont, das ist schon ungewöhnlich, da in den zeitgleichen Großsteingräbern weiter im Norden und Osten reichlich Beifunde zu Tage kamen.
Der Vorplatz erbrachte eine für die Region und darüber hinaus einmalige Abfolge mesolithischer Nutzungshorizonte, vom initialen bis zum späten Mesolithikum. Neben Steinartefakten und Knochenreste sind auch mehrere, unterschiedlich alte Feuerstellenzonen entdeckt worden. Zu den häufigsten Werkzeugfunden zählen Mikrolithen, also kleine Geschossspitzen aus Feuerstein oder Kieselschiefer, die als Pfeilspitzen dienten. Zusammen mit einem sog. Pfeilschaftglätter zeigen diese Funde, dass hier immer wieder Gruppen der letzten, nacheiszeitlichen Jäger und Sammler:innen rasteten, in der Umgebung jagten und ihr Equipment, vor allem die Jagdwaffen, ausbesserten. Wenbige flächenretuschierte Mikrolithen belegen, dass vor rd. 9000 Jahren Kontakte zur vor allem westlich des Rheins verbreiteten Rhein-Maas-Schelde-Gruppe bestanden. Sonst sind Einflüsse aus dem Süden und dem Norden zu erkennen.
Mit Erreichen der tiefsten mesolithischen Schichten stieg die Hoffnung, dass auch Relikte vom Ende der letzten Kaltzeit geborgen werden könnten. Tatsächlich kamen 2016 Steinartefakte zu Tage, die nicht mesolithisch, sondern spätpaläolithisch waren. Nach und nach konnte ein reicher Fundhorizont ergraben werden, der einige Überraschungen bereithielt. Generell kann in der Region davon ausgegangen werden, dass aus Fundschichten ganz vom Ende der letzten Kaltzeit – der Jüngeren Dryaszeit (ca. 10.800 - 9.650 v. Chr.) – Siedlungsreste der letzten Rentierjäger der Ahrensburger Kultur (wie am etwa 80 km östlich gelegenen Hohlen Stein bei Kallenhardt) entdeckt werden. Doch an der Blätterhöhle sind andere Funde geborgen worden. Sie lassen sich recht gut vergleichen mit solchen der späten Rückenspitzengruppen, die während der Jüngeren Dryaszeit südlich oder westlich der Ahrensburger Kultur verbreitet waren. So fehlen z.B. auch Rentiere, während Überreste von Rot- und Rehwild gefunden wurde.
Auch wenn noch einige Fragen offen sind, so deutet sich doch an, dass vor der Blätterhöhle die kurzzeitige Präsenz von Mensch und Tier aus südlichen oder westlichen angrenzenden Regionen dokumentiert ist, die auf eine kurzzeitige Gunstphase während der ansonsten meist kalt-trockenen Jüngeren Dryaszeit in Nordwesteuropa verweisen.
Ist diese Erkenntnis alleine schon überraschend, so sind in der Fundschicht auch noch wenige Kiefer- und Zahnreste eines etwa 7jährigen Kindes und ein stark abgekauter Prämolar (Vorbackenzahn) eines Erwachsenen entdeckt worden. Dies sind aktuell die ältesten Reste moderner Menschen in Westfalen und stellen in Nordwesteuropa eine Seltenheit dar. Warum die wenigen Schädelreste des Kindes in der Fundschicht lagen, ist ein Rätsel. Weitere Knochen sind bisher nicht gefunden worden.
Insgesamt hat das Forschungsprojekt „Blätterhöhle“ interessante und bisweilen einmalige Ergebnisse erbracht. So konnte hier erstmals nachgewiesen werden, dass eine jägerisch-sammlerische Lebensweise noch im 4. Jahrtausend v. Chr. in Mitteleuropa parallel zur Sesshaftigkeit existierte. Zudem gibt es in der weiteren Umgebung keinen anderen Fundort, an dem Menschenreste aus drei verschiedenen steinzeitlichen Epochen entdeckt wurden.
Mirjam Kötter M.A. & Wolfgang Heuschen M.A. (Stadt Hagen)
Prof. Dr. Jörg Orschiedt (Institut für Prähistorische Archäologie, Freie Universität Berlin)
Prof. Dr. Michael Baales (Außenstelle Olpe, LWL-Archäologie für Westfalen & RUB)
Prof. Dr. Andreas Maier (Institut für Ur- und Frühgeschichte, Universität zu Köln)
Stefan Voigt (Arbeitskreis Kluterthöhle e.V., Ennepetal)
An den Grabungen haben in den letzten zehn Jahren – neben vielen anderen – zahlreiche Studierende der RUB im Rahmen einer Lehrgrabung teilgenommen. Dies ist auch in 2024 wieder der Fall. Zudem ist seit 2023 die Universität zu Köln „mit im Boot“, so dass aktuell vor allem Studierende dieser beiden Universitäten an der Blätterhöhle aktiv sein werden.
In den zurückliegenden Jahren haben zudem eine Vielzahl von Personen und Institutionen die naturwissenschaftlichen Analysen durchgeführt.
Masterarbeit:
Annika Manz: „Die steinzeitlichen Fundhorizonte vom Vorplatz der Blätterhöhle, Hagen: Räumliche Analyse und Visualisierung“ (Ruhr-Universität Bochum 2022).
Bachelorarbeit:
Anna-Lena Roeder „Untersuchungen des Pfeilschaftglätters vom Vorplatz der Blätterhöhle in Hagen zu Hinweisen auf Funktion, Herstellung und Datierung“ (Ruhr-Universität Bochum 2016).
Von 2015 bis 2024 konnten die Grabungen vor allem mit Mitteln aus dem Denkmalförderungsprogramm des Landes NRW finanziert werden. Darüber hinaus haben die LWL-Archäologie für Westfalen und RUB Sachmittel bzw. Gelder zur Verfügung gestellt. Einzelne Analysen wurden durch die Stadt Hagen und Mark-E (Enervie-Gruppe), Hagen, finanziert.