Ansprechpartnerin: Prof. Dr. Constance von Rüden
Als landschaftsarchäologische Studie untersucht das Projekt seit 2017 die Alltagspraktiken der Bewohner*innen im Bereich der Subsistenzwirtschaft, des Austauschs sowie ihre Einbindung in rituelle, soziale oder politische Aktivitäten. Anhand von Fernerkundung, geomorphologischen Untersuchungen, Survey, Ausgrabungen, experimentellen Ansätzen und Unterwasseruntersuchungen rekonstruiert das Projekt die taskscapes der Gemeinschaften und deren räumliche Anordnung, um die spezifische Aneignung der land- und seascapes durch die Bewohner*innen nachzuvollziehen und deren mögliche Wahrnehmung und Bedeutung herauszuarbeiten. Dies bietet das Potenzial, die fast stereotype Vorstellung von der Nuraghenbevölkerung als Bergbewohner*innen und Hirten, die sich auf das pastorale Dasein beschränken und vom Meer abgewandt leben, zu durchbrechen, welche in der Literatur und dem touristischen Marketing aufrechterhalten wird und dadurch teilweise in die Erzählungen über die lokale Identität eingegangen ist.
Während die Beteiligung Sardiniens an einem breiteren, vom Meer ausgehenden Netz im Mittelmeerraum bekannt ist, ist die Art und Weise, wie die nuraghische Bevölkerung daran beteiligt war, eher unerforscht. Es bleibt die Frage offen, ob die Einwohner*innen diese Netze aktiv gestalteten oder eher passive Konsument*innen waren. Da letzteres oft implizit angenommen wurde, zielt die Studie darauf ab, die Einbindung der Nuraghen in die maritime Welt und die vom Meer ausgehenden Wechselbeziehungen durch die Untersuchung der Mikroregion der Insel Sant'Antioco an der Südwestküste Sardiniens zu beleuchten. Denn Sant’Antioco bietet, insbesondere im südlichen Teil um die Canai-Ebene, eine erstaunliche Dichte prähistorischer und nuraghenzeitlicher Strukturen, welche derzeit mit dem Fokus auf die sensorische Interaktion mit der Landschaft analysiert werden. Die Bewohner*innen von Sant'Antioco nutzten den maritimen Charakter der Insel bereits im Neolithikum und Chalkolithikum, wie ein vom Meer ausgehendes Netzwerk zeigt, das sich in der Verbreitung von Jaspis und Obsidian widerspiegelt. In der späteren Nuraghenzeit unterstützt die Meeresausrichtung der Nuraghe S'Ega Marteddu bei Maladroxia, Cala Bianca oder Porto di Triga eine ähnliche Annahme für diesen Zeitraum. Eine solche maritime Landschaft ist in der nuraghischen Archäologie noch nie systematisch untersucht worden. Das Projekt soll daher diese Lücke schließen und sich im Rahmen eines landschaftsarchäologischen Ansatzes auf dieses einzigartige Merkmal konzentrieren.
Die Keramik aus den Grabungskontexten wird, neben der allgemeinen fotografischen und zeichnerischen Dokumentation, vor allem auch hinsichtlich ihrer Herstellungsweise und mineralogischen Zusammensetzung untersucht. Um die Keramikproduktion und mögliche -zirkulation auf Sant’Antioco zu erfassen wurde zudem ein Rohmaterialsurvey in Kooperation mit Dr. Nadja Melko und Dr. Frank Gfeller (ArchaeoLytics) durchgeführt. In diesem Rahmen konnten mehrere vielversprechende Sedimente beprobt und im Anschluss experimentell verarbeitet werden. Im nächsten Schritt sollen die verschiedenen Proben nun mit der prähistorischen Keramik verglichen werden.
Durch einen systematischen Survey konnten Fundplätze von der (Sub-) Ozieri-Phase (neolithisch/chalkolithisch) bis zur römischen Zeit identifiziert werden. Ziel war es, auf Basis der aufgefundenen Fundkonzentrationen ein besseres Verständnis der räumlichen Anordnung von Fundorten und der diachronen Veränderungen des Siedlungssystems zu gewinnen.
Das sogenannte villaggio ist ein Teil des ‚Komplexes von Grutt’i Acqua‘ und liegt auf einem Plateau, dessen westlicher Rand von zwei Felsvorsprüngen dominiert wird, auf denen sich zwei Nuraghen befinden. Es zeichnet sich durch eine erstaunliche Funddichte und besonders gut erhaltene Mauerstrukturen aus. Während der Kampagnen 2017 und 2018 konnte ein Großteil des Areals von Bewuchs befreit und die ersten Strukturen dokumentiert werden. Die Grabungen am nördlichen Bereich starteten im Jahr 2019 mit zwei Schnitten. Unterhalb der Humusschicht kam dabei eine massive Versturzschicht zum Vorschein, die mit der darüber befindlichen beschädigten Nuraghe in Verbindung steht. Die Untersuchung des Fundmaterials legt eine Datierung in die rezente bis finale Bronzezeit nahe. In den Kampagnen 2020 und 2021 lag das Hauptaugenmerk auf der Untersuchung der bereits 2019 teilweise erfassten Struktur in Schnitt 2, die Capanna C. Die Funde des naviformen Baus, dessen Form typisch für die mittlere Bronzezeit ist, deuten auf eine Funktionsweise als Wohngebäude hin. Mit einer zusätzlichen Probenentnahmestrategie, die sich auf Mikro-Morphologie und botanische Überreste konzentriert, bietet sich so die Möglichkeit, einen Einblick in einen nuraghischen Haushalt mit den zugehörigen Lebensbedingungen und Ressourcen zu gewinnen. Das keramische Fundmaterial deutet gegenwärtig auf eine Besiedlung von der späten mittleren bis zur rezenten Bronzezeit hin, was mit den architektonischen Zeugnissen übereinstimmt. Dies spricht dafür, dass das Material tatsächlich die weitgehend unbekannte Formierungsphase der Nuraghenzeit repräsentiert. Auf der Grundlage dieser Funde können wir somit Praktiken rekonstruieren, die es uns ermöglichen, die Nutzung und Wahrnehmung der Landschaft durch die Bewohner der Stätte, insbesondere während der früheren Nuraghenzeit, besser zu verstehen.
Weitere architektonische Strukturen wurden um die Capanna C entdeckt (Schnitt 1 und 4), jedoch befindet sich deren Untersuchung noch in einer frühen Phase. Auch an der Nuraghe selbst wurden Untersuchungen durchgeführt (Schnitt 3), dessen Auswertungen ebenfalls noch ausstehen.
Basierend auf den Ergebnissen bezüglich der seascapes anhand der Prospektion einiger Nuraghen – mit Ausrichtung gen Meer – wurden bereits 2022 geomorphologischen Untersuchungen in Zusammenarbeit mit Schneider Environmental Reconstruction durchgeführt, die auf Umweltveränderungen in den Buchten hinweisen. Deshalb hat sich das Projekt zum Ziel gesetzt, die hohe Dichte an nuraghischen Denkmälern mit seiner vorteilhaften geostrategischen Lage und natürlichen Häfen zu verknüpfen.
Ergänzend zu den eigenen Bestrebungen werden zukünftig in Zusammenarbeit mit einem Team des Leon Recanati Institute for Maritime Studies der Universität Haifa – unter der Leitung von Prof. Dr. Assaf Yassur-Landau – die seascapes der Insel unterwasserarchäologisch untersucht, um mögliche Häfen, Ankerplätze oder Schiffswracks zu lokalisieren.
Zur besseren Differenzierung der verschiedenen Nutzungsphasen, insbesondere der postnuraghischen Nutzung, wurden die Oberflächenfunde sowie die architektonischen Strukturen des gesamten Areals bezüglich ihrer archäologischen und vor allem ethnographischen Parallelen untersucht. Im zentralen Bereich des villaggio befinden sich mindestens zwei Hütten mit eingefassten Höfen, deren Datierung nach bisherigen Erkenntnissen als überwiegend neuzeitlich zu betrachten ist, aber auch Hinweise auf Nachnutzung und Überbauung nuraghischer Strukturen vorweist. Die Funde zeigen zwei Hauptnutzungsphasen auf, die neben der bronzezeitlichen auch eine starke Frequentation im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts umfasst. Die Bauweise und Form einiger architektonischer Strukturen weisen zudem auf eine Umstrukturierung des Areals hin, die mit pastoraler Nutzung und der Verpachtung der Fläche in Zusammenhang steht. Diese diachrone Betrachtung des villaggios verdeutlicht die besondere Bedeutung des Ortes, den die Bewohner*innen der Canai-Ebene über Jahrtausende aufsuchten. Näheres hierzu findet sich bald in der kommenden Publikation „Taking place in Grutt’i Acqua. Agropastoral appropriation of a nuragic site in Sant’Antioco of the modern era“.
Die Kooperation mit Il Calderone spielt eine zentrale Rolle und befördert unsere Arbeit in großem Maße. Die lokale Unterstützung reicht dabei von organisatorischen Aufgaben, über Grabungsarbeit bis zur Kontaktaufnahme zu Grundstückseigentümern, sodass viele Erfolge ohne die Hilfe unserer sardischen Kollegen*innen nicht möglich gewesen wären.
Prof. Dr. Constance von Rüden
Institut für Archäologische Wissenschaften
Ruhr-Universität Bochum
Am Bergbaumuseum 31, 44791 Bochum
Raum: 0.3.10
Tel.: (0234) 32-23893
Mail: Constance.vonrueden@ruhr-uni-bochum.de
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